Die nackten Fragen und der kleine Schritt


Ja, ich gebe es zu. Da sind ein paar Fragen, die ich gerne gestellt hätte, oder auch einfach nur unbeantwortet gefragt hätte, um sie auszusprechen. Es wären nur Fragen gewesen. Hat man sie bereits auf meinem Gesicht lesen können, sie in meinen Augen erkannt? Vielleicht hat auch das ganze Haus meinen Herzschlag gehört, als pulsiere er vom Keller bis zum Dachboden. Vielleicht hast auch nur du die Fragen gekannt.

Haben sie dich denn echt so erschreckt? Das lag nun wirklich nicht in meiner Absicht, und es macht mich traurig, dass du zurückweichen musstest, weil die Fragen dir zu nahe kamen in diesem leeren Raum. Ich kann deinen Blick verstehen, solltest du tatsächlich den Drang verspürt haben, die Flucht eines Schrittes zu begehen. Nur leider bleiben die Fragen jetzt nicht nur unbeantwortet, sondern auch unausgesprochen.

Gestellt wurden sie wohl trotzdem, beim Blick in deine Augen, beim Betrachten deiner Lippen, beim Verfolgen deiner Bewegungen. Ich kann ja nichts dafür, dass sie da sind. Ich weiß, dass sie noch im Raum stehen, und du weißt es auch. Du hast sie ja beunruhigt angesehen, als sie versuchten, ihre Blöße zu bedecken, und daran kläglich scheiterten. Vielleicht waren sie einfach zu nackt, vielleicht musstest du deshalb den kleinen Schritt zurück tun, nachdem ich mich den kleinen Schritt vorgewagt hatte.

Wer von uns beiden nimmt die Fragen denn nun mit? Hier so im Raum stehen lassen können wir sie nicht. Ja, ich weiß, du willst sie nicht. Ich habe sie ja schon wieder eingepackt. Fast als hätte ich sie nie gestellt, siehst du? Ja, ich weiß auch, dass du sie schon gesehen hast. Und ich sehe auch die Antwort, die du mir jetzt gibst, ganz ohne Worte: Ein letzter verstörter Blick und du bist weg. Ich höre nur noch die vielen leisen, kleinen Schritte auf der Treppe nach unten.



Regen im Morgengrauen


So wechselt also das triste Grau,
welches hinter der Scheibe gebietet,
kaum merklich in ein eisiges Blau,
und hat alsbald den Himmel geflutet.
Und wie die Tropfen noch völlig blass
schon beinahe zu fliegen anheben,
bröckelt die Maske, nicht länger nass,
die falsche Haut weiß nicht zu kleben.
Wo ist nur das alte Lächeln geblieben,
das gerade noch die Hülle vorgeführt?
Habens die traurigen Augen vertrieben,
indem ihr Blick das Lächeln berührt?
Dachte einst, die Augen gehören mir,
doch erkenn ich mich darin nicht mehr,
auch die Züge, oder die Lippen hier,
der ganze Ausdruck – vollkommen leer.
Der Nebel hebt sich schwer vom Land,
zeigt die fahle Welt nur langsam reiner,
gleichsam geweckt von Geisterhand,
und doch: Hinzusehen wagt keiner.
Hinter dem fremden Gesicht im Glas
beachte nur ich den grotesken Wandel,
und frage nach dem tagtäglichen Maß,
dem Preis für diesen ständigen Handel.
Womöglich ist’s nichts als Besessenheit,
Neuerungssucht und neurotische Eile,
die Tag für Tag nach Neuem schreit,
während ich – wie vergessen – verweile.
Wie sollte ich dich nennen, Widerschein?
Habe dich je weder gesehen noch gekannt.
Du fremdes Bild bist nicht wirklich „mein“,
Leere wirft kein Bild an eine Spiegelwand.



666


Sechs toxische Küsse,
sechs taufrische Risse,
die Lippen voll Schmerz,
ein hämmerndes Herz
und sechs rote Sünden,
die Laster zu entzünden...
 
Sechs brillante Striemen,
so sie sich geziemen,
sechs abgründige Blicke
in des Schames Lücke;
nächtliche Schwingen
sechs mal umschlingen...
 
Sechs Düfte gesogen,
im Atemzug betrogen,
sechs geleckte Wunden,
noch vorhin geschunden,
sechs Leiden geblieben,
dich sieben Mal lieben...



Liberatio


Die Luft ist erfüllt von dem Geruch nach Fabrikabfällen, die auch seit Jahrzehnten wohl niemand entsorgt zu haben scheint, und der Himmel ist so grau, wie die Asche einer vergessenen Liebe. Der heruntergekommene Platz wird beherrscht von der drängenden Mauer der alten Fabrik, die rotbraunen Backsteine trotzen noch immer Wind und Wetter. Und dennoch zeigen sie bereits Verfallserscheinungen: Gebückt und verloren schweigen sie.

Wir müssen ein merkwürdiges Bild abgeben, wie wir so als lebendige Wracks in dem längst toten Charme der alten Fabrikhalle stehen und uns eine Ewigkeit um die andere in die Augen sehen. „Ich bitte dich“, sagst du mit schwacher Stimme, „nimm das Ding runter!“

Ruckartig schüttele ich den Kopf und schlucke. Meine Hände sind feucht und zittern, sodass ich beide Hände brauche, um den Lauf auf sein Ziel gerichtet zu halten. Mein Zeigefinger verkrampft sich immer mehr. „Was ist los?“, willst du wissen. „Ich verstehe das nicht! Noch gestern war doch alles in Ordnung, alles war perfekt!“ Fragend hebst du die Schultern, ich hebe warnend das Kinn.

„Ich liebe dich!“

„Ich dich doch auch! Aber nimm dieses Ding da weg!“, rufst du mit wegrutschender Stimme. Ich kann deine Angst vor einer kleinen Bewegung von mir bis hier her riechen. „Du bist doch total irre!“ Verzweiflung macht sich dein Gesicht untertan, Tränen stehen in deinen Augen, ebenso wie in meinen. „Du kommst mit der Welt nicht mehr klar!“

„Sei endlich still!“, schreie ich und bringe dich damit zum Schweigen. „Es geht nicht, ich kann nicht mehr!“

„Was kannst du nicht mehr, um Himmels willen? Was habe ich dir getan?“

„Diese Angst frisst mich auf, die Liebe tut weh wie eine Säure. Ich halte es nicht mehr aus!“

„Und du meinst, das da sei eine Lösung? Ich bitte dich!“

Ich schluchze und du schweigst. Du siehst, dass ich meine Hände nicht mehr still halten kann, sie zittern wie nach einem Rausch. Kleine Tropfen legen sich gleichmäßig auf das kalte Metall und meine heißen Finger. „Es fühlt sich an wie Hass“, sage ich mit bebender Stimme. „Ich weiß, dass Liebe sich so anfühlt, aber sie ist zu groß. Sie zerreißt mich.“

Fassungslos schüttelst du den Kopf, suchst in meinen Augen nach der Frau, die du kennst, und wärst bereit, deine Seele dem Teufel zu verkaufen, nachdem du gesehen hast, dass du sie verloren hast. Du ahnst nicht, wie sehr mich dein Leid schmerzt, fast noch mehr als mein eigenes. Fast noch mehr als dein Leben. Aber nichts in mir schmerzt so wie meine Liebe. Also schließe ich die Augen und ziehe langsam den Abzug.

Es dauert eine Ewigkeit, bis der ohrenbetäubende Knall an meine Ohren dringt und ich die Augen öffne. Der Schleier aus silbernen Tränen hebt sich nur langsam und gibt zögerlich den Blick frei. Den Blick auf deinen leblosen Körper und die rote Lache unter dir, die zusehends größer wird. Mein Herz zerreißt und sprengt alles in mir. Der Schmerz fühlt sich wie eine vernichtende Druckwelle an und entlädt sich in meinem Schrei des Warum.

Stille. Ich sinke auf die Knie, sehe deine Leiche, den Dampf, der sich über dem Blut in den kalten Himmel hebt. Und genauso leer wie der Blick deiner Augen bin jetzt auch ich. Du bist gegangen und hast die Liebe mit dir genommen. Die Stumpfheit fühlt sich angenehm an. Mühelos. Das Atmen fällt nicht mehr schwer. Ich muss nicht mehr sehen, was ich anschaue. Ich sehe Weiß, ich fühle nichts, ich höre Ruhe, ich rieche das Paradies, ich schmecke deinen Tod auf meinen erlösten Lippen.



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